Standort Polen „Über die Jahre sind hier mehr als 60.000 Arbeitsplätze entstanden“

Wirtschaftsstandort Lodz und der stellvertretende Bürgermeister Adam Pustelnik Quelle: imago images

Nicht erst seit Miele zieht es Unternehmen in die Region Lodz. Im Interview spricht der Wirtschaftsbürgermeister der Stadt, Adam Pustelnik, über die Gründe der Jobverlagerung – und die Rolle von EU-Subventionen.

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WirtschaftsWoche: Herr Pustelnik, das deutsche Familienunternehmen Miele hat angekündigt, weltweit 2000 Arbeitsplätze abzubauen. Ab 2027 sollen die Waschmaschinen ausschließlich in der Region Lodz in Polen gebaut werden. Sie sind der stellvertretende Bürgermeister von Lodz, zuständig für Wirtschaftsfragen: Was macht Lodz, was macht Polen für Miele attraktiv?
Adam Pustelnik: Miele wurde eher von globalen Trends getrieben. Nach meiner Wahrnehmung litt das Unternehmen unter steigenden Kosten aufgrund von Unterbrechungen in der Lieferkette, unter Energiekosten und dergleichen. In der Vergangenheit gab es viele Fälle, in denen westliche Unternehmen beschlossen, einige Arbeitsplätze von westlichen Standorten nach Polen zu verlagern. Dass Unternehmen ihre Produktionsstätten in den Osten verlagern, ist ein allgemeines Phänomen. Die gesamte US-Wirtschaft leidet seit Jahrzehnten unter der Abwanderung von Arbeitsplätzen aus dem Rust Belt nach China. Heutzutage sind die Appalachen kein industrielles Zentrum der USA mehr, die Arbeitsplätze sind nach China abgewandert. Die USA haben begonnen, sich zu einer von Finanzdienstleistungen abhängigen Wirtschaft zu entwickeln. Das gesamte Modell hat sich geändert.

Seit den Neunzigerjahren lockt Polen globales Kapital mit „Sonderwirtschaftszonen“ an. Die Unternehmen sind teilweise von der Körperschafts- und Immobiliensteuer befreit. Können Sie die Sonderwirtschaftszonen näher erläutern: Was bedeuten sie? Wie locken Sie damit Unternehmen an?
Bestimmten Entwicklungsgebieten innerhalb der EU werden Kostenvorteile gewährt, damit sie wettbewerbsfähig werden. Die Sonderwirtschaftszonen haben in der EU unterschiedliche Bezeichnungen. In Italien heißen sie „Zona Industriale“. Sie werden von der EU-Kommission reguliert, was bedeutet, dass die Mitglieder keine volle Autonomie bei der Gestaltung dieser Zonen haben. In Polen wird die Höhe der öffentlichen Beihilfen ebenfalls nach Gebieten geregelt. Einige Städte sind völlig ausgenommen, so ist beispielsweise Warschau aufgrund des wirtschaftlichen Reichtums der Region von öffentlichen Beihilfen befreit. Generell würde ich die Rolle der Sonderwirtschaftszone aber nicht überbewerten.

Und doch scheinen sie einen großen Standortvorteil im globalen Wettbewerb um Direktinvestitionen zu bieten, wie der Fall Miele zeigt.
Mieles Industrieprojekt in Polen begann bereits vor sechs Jahren. Die aktuelle Produktionsverlagerung nach Polen hat wenig mit den Sonderwirtschaftszonen zu tun. Die Befreiung von der Körperschaftssteuer wird nur gewährt, wenn völlig neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Werden Arbeitsplätzen aus anderen Teilen Europas verlagert, etwa von Deutschland nach Polen, wie es bei Miele der Fall ist, greift das Instrument nicht.

Zur Person

Welche Rolle spielen die niedrigen Steuern im Wettbewerb um Ansiedlungen von Unternehmen?
Innerhalb der EU gibt es viele Gebiete, die nicht wörtlich als Sonderwirtschaftszonen bezeichnet werden. Einige Länder nutzen in aggressiver Weise Subventionen, um Kapital anzuziehen. In Irland beispielsweise gibt es das aggressivste Fördersystem in der gesamten Europäischen Union. Aber auch Luxemburg subventioniert kräftig. Und Deutschland nutzt ebenfalls staatliche Mittel, die jüngste Intel-Investition im Raum Magdeburg ist ein Beispiel dafür, der deutsche Staat stellt Milliarden zur Verfügung. Es wird dort nur nicht Sonderwirtschaftszone genannt.

In Polen ist das Niveau der öffentlichen Beihilfen im europäischen Vergleich durchschnittlich, insbesondere im Vergleich zu Staaten wie Irland. Die Körperschaftssteuer und allgemein die Unternehmenssteuern liegen auf einem durchschnittlichen europäischen Niveau.

Welche anderen Gründe gibt es, das ausländisches Kapital nach Polen und Lodz fließt?
Die Befreiung von der Körperschaftssteuer ist nicht der Hauptgrund. Es ist eher eine Kombination aus Kostenwettbewerbsfähigkeit, also einem sehr guten Preis-Leistungs-Verhältnis. Polen ist ein relativ bevölkerungsreiches Land, zusammen mit der ukrainischen und weißrussischen Gemeinschaft gibt es einfach auch einen ziemlich großen Talentpool. Wir haben ein gutes Bildungssystem, und diese gute Ausbildung wird staatlich subventioniert, nicht wie in Großbritannien oder den USA, wo die Universitäten privat sind.

War Lodz schon immer eine wirtschaftlich prosperierende Region?
Lodz war früher ein wirtschaftliches Zentrum für die Textilindustrie. Und nachdem der Kommunismus in den 1940er Jahren, also in der Nachkriegszeit, in Polen durchgesetzt wurde, blieb es zunächst ein solches. Die Gegend war geprägt durch die staatliche Industrie, die die Landschaft dominierte. Und in den 1990er Jahren, so dynamisch wie es begann, so dynamisch brach es auch wieder zusammen.

Was war geschehen?
Die 90er Jahre waren eine brutale Ära. Anfang 2000 gab es eine 20-prozentige Arbeitslosigkeit, eine massive Abwanderung aus der Stadt und große soziale Strukturprobleme. Der Grund, warum die Region als sozioökonomische Einheit überlebte, war Unternehmertum. In den 90er Jahren entstanden tausende Firmen. Später, mit der weiteren Integration in die westlichen Institutionen, zunächst in die NATO, später in die EU, und mit der starken Verflechtung und gegenseitigen Abhängigkeit mit der deutschen Wirtschaft, entwickelte der Staat institutionelle Stabilität, man hat die Korruption erfolgreich bekämpft. Und auch dank der Verflechtung mit der deutschen Wirtschaft und unserem Beitritt zur EU haben wir wieder begonnen, uns zu entwickeln.

Was sind die heutigen Stärken Ihrer Region im Vergleich zu anderen in Polen?
In Lodz hat sich viel Expertise gesammelt, was die Produktion von Haushaltsgeräten betrifft. Das hat sich historisch entwickelt, angefangen bei Bosch, Siemens. Wir haben einen riesigen Talentpool, den diese Unternehmen über Jahre hinweg aufgebaut haben. Die Unternehmen haben ihre Zulieferer aus Deutschland mitgebracht.

von Max Haerder, Henryk Hielscher, Cordula Tutt

Wann hat diese Entwicklung begonnen?
Ich schätze in den 90er Jahren. Diese Unternehmen verlagerten ihre Montagefabriken aufgrund der sehr niedrigen Lohnkosten und der positiven Erfahrung mit den Fachkräften in der Fertigung. Im Laufe der Zeit bauten sie ihre Präsenz aus, sowohl was die Qualität als auch die Quantität der Arbeitsplätze angeht. So entstanden Zentren für Forschung und Entwicklung, für Informationstechnologie. In den Großstädten von Polen generell haben sich viele Shared Services Center entwickelt. Auch Lodz ist ein Ort, an dem westliche Unternehmen Prozesse wie Finanzen, Buchhaltung, Versorgungskette, Beschaffung, Kundendienst und Kundendienste ansiedeln. Das macht zusammen mit dem IT-Sektor insgesamt etwa 60.000 Arbeitsplätze aus, hauptsächlich durch westliches Kapital.

Wie sieht Ihre wirtschaftliche Strategie für die Zukunft aus?
Wir bereiten die Stadt auf den Zustrom einer großen Anzahl zusätzlicher Investitionen vor. Wir haben vor kurzem mehrere 200 Hektar Industrieflächen in unmittelbarer Nähe von Wohngebieten erschlossen. Wir bieten einen guten Zugang zu potenziellen Arbeitskräften. Wir wollen uns die Trends zunutze machen, von denen die ganze Welt spricht: Friendshoring, Nearshoring, Verkürzung der Lieferkette. Wir wollen, dass viele neue Unternehmen hier Produktionsstätten eröffnen, die näher am Endkunden sind. Näher an den europäischen Märkten.

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Funktionieren die globalen Märkte für Polen in Zeiten des Krieges in der Ukraine?
Momentan ist eine schwierige Zeit. Wir erleben eine enorme Verlangsamung der ausländischen Direktinvestitionen aufgrund der geopolitischen Spannungen, wegen dem Krieg im Nachbarland und der Tatsache. Das globale Kapital befindet sich in einer Zeit großer Unsicherheit. Amerikanische Unternehmen waren eine wichtige Quelle für Investitionen, die geopolitischen Faktoren haben die amerikanische Handelspolitik stark beeinflusst. Wir würden einen großen Fehler begehen, wenn wir uns jetzt darauf konzentrieren, den Status quo zu reproduzieren und aufhören, uns auf die wirtschaftliche Entwicklung zu konzentrieren.

Lesen Sie hier: Ist die Jobwanderung nach Osten noch zu stoppen?

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