Emotionale Bindung Überidentifikation: Deshalb kann fehlende Distanz zum Job krank machen

Quelle: imago images

Warum kann zu viel Identifikation mit dem Beruf schaden – und was hilft, um Distanz zu gewinnen? Zwei Experten ordnen ein, was es mit der Berufsidentität auf sich hat.

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Die Berufsidentität ist ein wichtiger, für manche Arbeitnehmer wesentlicher Teil der eigenen Identität. Sie stelle eine wichtige Bindung her zu dem, was Menschen arbeiten – neben den verschiedenen Methoden und Erfahrungen, die sie bei der Arbeit sammeln. Zur beruflichen Identität gehört verschiedenes: das eigene Team, der eigene Arbeitgeber. Die Art des Berufs.

Passen die eigenen Kompetenzen und diese Identität gut zueinander, wirke sich das positiv auf die Bindung an das Unternehmen und an das Team aus, erklärt Theo Wehner, der Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der ETH Zürich: Mitarbeiter sind motivierter und leistungsfähiger. Unternehmen wissen das und tun ihrerseits viel dafür, Beschäftigte emotional zu binden. Manche betonen, eine Familie zu sein. „Wir leben in Dekaden, in denen Identitätskrisen eine große Rolle spielen“, erklärt Wehner.

Doch: Es gibt auch ein Zuviel an Identifikation. Wer sich vor allem über seinen Job und seine berufliche Leistung identifiziert, ist verwundbarer bei Rückschlägen. Experten vergleichen es mit Risikomanagement: Läuft es nicht im Job, gleichen es Familie, Ehrenamt oder Hobby aus – und umgekehrt.

Einer im April 2023 veröffentlichten Studie zufolge ist jeder zehnte Erwerbstätige in Deutschland arbeitssüchtig. Demnach arbeiteten diejenigen nicht nur sehr lange und schnell. Sie könnten auch nur mit schlechtem Gewissen freinehmen und fühlten sich häufig nicht dazu in der Lage, im Feierabend zu entspannend, so heißt es in der gemeinsamen Studie von Forscherinnen und Forschern des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) und der Technischen Universität Braunschweig. Besonders häufig betroffen sind demnach Führungskräfte: Sie seien zu 12,4 Prozent arbeitssüchtig. Andere Erwerbstätige sind es zu 8,7 Prozent, heißt es in der Studie, in der die Wissenschaftler Daten von 8000 Personen ausgewertet haben und die von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung gefördert wurde. Suchthaft Arbeitende litten deutlich häufiger als andere unter körperlichen oder psychosomatischen Beschwerden, suchten deswegen aber seltener ärztliche Hilfe. Für Betroffene steige das Risiko für Burnout oder depressive Verstimmungen.

Vor allem Leistungsträger neigen zu Überidentifikation, zeigen Studien

Studien zeigen dabei, dass eine „Überidentifikation“ mit dem Job der Gesundheit schaden kann. So fanden Forscherinnen der Colorado State University 2017 in einer Übersichtsarbeit heraus, dass hohe Identifikation mit dem Arbeitgeber gefährlich sein kann. Die US-Wissenschaftlerinnen werteten 40 Studien der vergangenen Jahrzehnte aus und filterten negative Folgen heraus. Sie kommen zu dem Schluss, dass Mitarbeiter, die sich stark mit ihrem Unternehmen identifizieren, dazu neigen können, sich unethisch zu verhalten, gegen Veränderungen Widerstand zu leisten, geringere Leistung zu bringen. Außerdem könne es zu negativen Emotionen und verminderten Wohlbefinden führen. Und: So wie ein Mitarbeiter umso stärker von Erfolgen zehrt, je mehr er sich mit seinem Arbeitgeber identifiziert, umso stärker leidet er unter Niederlagen. Ist das Unternehmen in einen Skandal verstrickt, schämen sich diese Mitarbeiter dafür.

Zwei Studien haben 2014 in Italien Angestellte an Gerichten sowie Lehrkräfte untersucht. Ihr Ziel war, herauszufinden, ob es ein Zuviel an Identifikation gibt und ob sich Überidentifikation negativ auf die Gesundheit auswirken kann. Die Forscher fanden heraus, dass ab einem bestimmten Identifikationsniveau erhöhte Arbeitssucht auftritt, Mitarbeiter sich selbst ausbeuten – und demzufolge die Gesundheit leidet. Und: vor allem Leistungsträger könnten von einer Überidentifikation betroffen sein.

„Es ist einfacher zu managen, wenn jemand übers Ziel hinausschießt“

Michael Groß ist einer der Autoren dieser Studien. Er ist Honorarprofessor an der Goethe-Universität für Organisation und Führung, zudem selbstständig als Coach – und dreifacher Olympiasieger im Schwimmen. Dass uns der Beruf so wichtig ist, liege auch an der sogenannten Selbstwirksamkeit, erklärt Groß. Beschäftigte, die das Gefühl haben, etwas verändern und gestalten zu können, identifizieren sich automatisch stärker mit ihrem Job. Übrigens, erklärt er, identifiziere man sich immer mehr mit einem Job als mit einem Unternehmen. Dass sich Beschäftigte emotional an den Arbeitgeber binden, komme erst über die Tätigkeit. Für Unternehmen hat das Vorteile: Wer sich mit dem Arbeitgeber identifiziert, ist lösungsorientierter und gibt bei Schwierigkeiten nicht so schnell auf, geht mit Fehlern besser um. „Es ist einfacher zu managen, wenn jemand übers Ziel hinausschießt und sich zu sehr identifiziert. Schwierig wird es, wenn jemand keine Identifikation hat.“

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Unternehmen rät er, überidentifizierten Mitarbeitern Wertschätzung entgegenzubringen, die Mehrarbeit nicht zu verbieten – und zugleich die Gesundheit in den Mittelpunkt zu rücken. Die Maßnahmen können je nach Branche unterschiedlich sein: zum Beispiel klare Regelungen, was E-Mails und Erreichbarkeit angeht. „Gerade diejenigen, die sich stark identifizieren, machen sich durch Mails außerhalb der Arbeitszeit viel mehr Gedanken“, erklärt Groß.

Acht Tipps zum Stressabbau

Wer selbst merkt, dass die Distanz zum Job fehlt, sollte sich fixe Zeiten für Sport, private Treffen oder ein Ehrenamt festlegen, die gleichberechtigt neben beruflichen Terminen stehen. „Harte Grenzen“ nennt Groß das. Der ehemalige Spitzenschwimmer blockt sich beispielsweise feste Zeiten, um Sport zu treiben.

Wenn es um Berufsidentifikation geht, müsse man zwischen der sogenannten personalen Identität – sozusagen die Identität mit sich selbst als Banker, Wissenschaftlerin, Handwerker – und der geteilten Identität zu unterscheiden, erläutert Theo Wehner. Letzteres beschreibe kollektive Werte – vereinfacht gesagt: die Zunft der Banker, Wissenschaftler, Handwerker. „Wir haben uns jedoch zunehmend entsolidarisiert, die geteilte Identität nimmt ab“, sagt Wehner. „Wenn jedoch nur personale Identität da ist, führt das viel schneller in den Burnout, zu Frustration, in die Fluktuation.“ Gemäß dem Motto: In dieser Bude halte ich es nicht mehr aus. „Unser Team, die Organisation schützt uns. Sie gleichen individuelle Schwankungen aus und entlasten, schaffen dadurch Geborgenheit“, sagt Wehner.

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Warum der Reflex vieler Beschäftigter bei einer Krise sei, sich zu distanzieren und von dem Debakel Abstand zu gewinnen, kann Wehner ebenfalls einordnen: Viele würden das Unternehmen verlassen, weil sie sich nun auf ihre eigenen Fähigkeiten besinnen, die auch anderswo gebraucht werden.

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Transparenzhinweis: Dieser Artikel erschien erstmals im April 2023 bei der WirtschaftsWoche. Wir zeigen ihn aufgrund des Leserinteresses erneut.

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